Krise in Nicaragua — eine Lösung braucht einen langen Atem

Ein Bericht über die Veranstaltung mit Dr. Ernesto Medina im Bürgerhaus Wilhelmsburg am 4. Juni 2019

„In welchem Nicaragua wollen wir in Zukunft leben? Darüber müssen wir reden.“ — Dr. Ernesto Medina ist ehemaliger Rektor der Universidad Americana (UAM) in Managua und aktuell als Berater der Delegation der „Zivilen Allianz für Gerechtigkeit und Demokratie“ (ACJD) tätig. Diese Delegation der Alíanza Cívica, wie sie kurz genannt wird, führt mit einer Delegation des Regimes seit Ende Februar 2019 einen schwierigen Dialog. Auf Einladung des Nicaragua Vereins Hamburg e.V. und in Hamburg lebenden nicaraguanischen Flüchtlingen war Dr. Medina zu Gast im Bürgerhaus Wilhelmsburg.

Das Thema des rund einstündigen Vortrags, der von Karin Uhlenhaut aus dem Spanischen übersetzt wurde, lautete: Nicaragua – Neue Generation – Neue Perspektiven. Gleich zu Beginn verdeutlichte Dr. Medina, dass die Regierung Ortega-Murillo Ende Februar 2019 den Dialog mit den oppositionellen Kräften nur wieder aufgenommen habe, weil der Zusammenbruch der Wirtschaft zu einem verstärkten Druck einflussreicher privater Unternehmer führte. Im Mai 2018 hatte es erste Versuche eines Dialogs gegeben, die aber nach nur knapp einem Monat einseitig von Ortega abgebrochen worden waren. Dr. Medina war damals schon einer der Berater der Oppositionsbewegung gewesen und hatte sich in einem offenen Brief an Ortega auf die Seite der protestierenden Student*innen gestellt, deren Forderungen darin gipfelten, dass Ortega-Murillo unverzüglich das Land verlassen müssten. Sie haben auf das eigene Volk schießen lassen und dabei kam es zu Todesopfern, darunter auch Kinder und Jugendliche.

Jetzt, gut ein Jahr später, und in der schwierigen Phase eines immer wieder unterbrochenen zweiten Dialogs stellt Dr. Medina fest, dass internationale Sanktionen (wie sie inzwischen von den USA auf den Weg gebracht worden sind) eine wichtige begleitende Unterstützung der Dialogsuche seien. Der Wissenschaftler betonte, dass die Alíanza dabei durch eine Mehrheit der Bevölkerung getragen werde. Er räumte aber ein, dass es in der Alíanza „Leerstellen“ gebe. Er erläuterte, dass Vertreter*innen der Karibikküste, feministischer Organisationen sowie auch sandinistischer Organisationen, die dem Regime Ortegas seit langem kritisch gegenüberstünden fehlen würden. Auch die Kommunikation der Alíanza mit der Bevölkerung sei noch verbesserungswürdig.

Die größte Herausforderung für die Delegation stellten jedoch die taktischen Manöver des Regimes dar, mit dem es in der internationalen Öffentlichkeit den Anschein erwecken wolle, dass sich die Verhältnisse im Land normalisiert hätten. Davon sei aber keine Rede, machte Dr. Medina klar. Es seien zwar etliche der politischen Gefangenen entlassen worden, doch viele von ihnen stünden unter Hausarrest und ständiger Beobachtung durch die orteguistische Polizei. Auch das Amnestiegesetz sehe die Allianz kritisch, da damit die Täter*innen in den Reihen des Regimes amnestiert werden, ohne dass es zuvor zu irgendwelchen Anklagen gekommen wäre. Die Suche nach Wahrheit sowie die Gestaltung des Demokratisierungsprozesses, in dem dann freie, vorgezogene Wahlen stattfinden können, seien die Hauptanliegen der Allianz.

Im Anschluss an den Vortrag hatte das Publikum Gelegenheit Fragen zu stellen. Auf die Frage, wie Dr. Medinas Ansicht nach gesellschaftliche Versöhnung in dem zerissenen Land erreicht werden könne, antwortete Dr. Medina, dass zweifelsfrei die Wahrheit über Straftaten offengelegt werden müsse. Die Einrichtung einer Wahrheitskommission sei dabei nur eine Idee. All das sei aber sehr schwierig, weil das Regime versuche zu vertuschen. Uneinigkeit gebe es auch über die Listen, die über die politischen Gefangenen existieren. Das Regime versuche sie als gewöhnliche Kriminelle darzustellen und damit erkenne es weniger politische Gefangene an als die Menschenrechtsorganisationen im Land und außerhalb.

Wie schaffen wir es, das Vertrauen in Politik und politische Parteien herzustellen, also eine politische Zukunft zu gestalten?, wollte ein nicaraguanischer Teilnehmer wissen? Das sei für ihn die große Herausforderung, antwortete Dr. Medina. In der Unidad Nacional Azul Y Blanco (UNAB), sehe er den „Embryo“ einer politischen Bewegung, mehr nicht. Der politische Findungs- und Organisationsprozess gehe jetzt erst los. Parteiengründung, Organisationen, die politische Verantwortung tragen können, all das werde sehr ernsthaft diskutiert. Dabei gehe es auch um neue politische Konzepte und die Frage, wie internationale Instanzen das unterstützen können.

Ein Zuhörer meinte, dass die Anwesenheit derjenigen, die das große Kapital vertreten künftig kritischer betrachtet werden solle. Dr. Medina antwortete, dass anerkannt werden müsse, dass die Wirtschaftsvertreter*innen jetzt und in Zukunft eine wichtige Rolle spielen würden. Seine Botschaft war deutlich: Alle müssen sich zusammensetzen, um über die Zukunft Nicaraguas und seiner staatlichen Stellen zu entscheiden. Ausgrenzung darf es also nicht geben.

Den Zuhörenden im Saal des Wilhelmsburger Bürgerhauses ist durch den Abend mit Dr. Medina bewusst geworden, dass eine Lösung der aktuellen Krise in dem Land einen langen Atem braucht.

Im Anschluss an seinen Aufenthalt in Hamburg reiste Dr. Medina nach Wuppertal weiter. Die Bergische Universität hatte ihn eingeladen, um über die Situation der Universitäten in Nicaragua zu sprechen, die sich seit den Protesten der Student*innen im April 2018 massiven Repressionen ausgesetzt sehen.  

Text und Foto: S. Gondro

Foto: Auf dem Podium im Bürgerhaus: Moderator Matthias Schindler, Übersetzerin Karin Uhlenhaut und Referent Dr. Ernesto Medina (v.l.n.r).